Teil 2 zum Themen-Schwerpunkt „Lebensqualität im Alter“ befasst sich mit dem „Betriebssystem“ des WOAL-Hauses. Doch nicht so schnell … Worum geht es denn hier überhaupt?

Um nichts zu verpassen, lesen Sie am besten nach, was in Teil 1 unserer Veranstaltung mit WOAL – Verein Wohnen ohne Alterslimit – Sache war. Auch Moderatorin Ulli Kobrna beginnt den Abend mit einem Rückblick auf Teil 1 und verweist auf die Rollenspiel-Zukunftsreise: ein Radiointerview mit Menschen, die sich bereits für ein WOAL-Projekt entschieden haben. Auch ein Hinweis auf die vier tragenden Säulen, die Grundprinzipien des WOAL-Hauses, darf nicht fehlen: Bei alledem geht es darum, lebenswerte Perspektiven fürs Altern in Solidarität und Selbstbestimmung bis zum Lebensende zu entwickeln.

Doch was bringt ein Haus, das aus tollen Mauern und tragenden Strukturen besteht, aber nicht belebt wird? Der zweite Teil der Veranstaltung beschäftigt sich mit dem Wie, dem „Betriebssystem“ – oder wem sich diese Begriffe verschließen: Es geht ganz konkret um

  • ein Betreuungs- und Pflegekonzept
  • ein Organisationskonzept
  • ein Finanzierungskonzept

An diesen Konzepten hat WOAL zwei Jahre lange gearbeitet und gefeilt und sich intensiv damit befasst, was es in der Praxis heißen könnte. Das bedeutete einerseits, sich auf Best Practice-Modelle der Pflegewissenschaften zu stützen und andererseits mit Hilfe von Fallbeispielen eine von vielen möglichen Realitäten durchzudenken.

Das Betreuungs- und Pflegekonzept

Margret Weissenbacher stellt das Betreuungs- und Pflegekonzept vor

Margret Weissenbacher führt in das Thema ein, indem sie die Frage aufwirft, wie viele Personen in einem zukünftigen WOAL-Projekt davon betroffen sein werden. Wir mögen alle unterschiedliche Bilder vom Alter haben – von hilfloser Bettlägrigkeit oder dem Rollator bis hin zu den braungebrannten Senior*innen auf dem Kreuzfahrtschiff. Doch wie sieht die Realität aus, was sagt uns die Statistik dazu?

Zur Klärung dieser Fragen wurde der Österreichische Pflegevorsorgebericht 2014 des Sozialministeriums herangezogen und heruntergebrochen, wie viele Personen in den entsprechenden Altersgruppen Pflegegeld in den verschiedenen Pflegestufen beziehen – hier ein Auszug aus dem Handout von Margret Weissenbacher:

Das WOAL-Pflegekonzept orientiert sich an den Grundsätzen des Modells von Dorothea E. Orem, einer amerikanischen Krankenschwester und Pflegetheoretikerin. Ihr Modell geht vom Grundsatz der Selbstpflege aus:

Eine der Kernfragen für das Leben in solidarischer Selbstbestimmtheit ist ja: Wer kann mir helfen? In welchen Situationen geht es mit Personen aus Familie, Freundeskreis oder Nachbarschaft? Wann brauche ich Profis? Und wie zieht man die Grenzen? Bei diesen Fragen hilft der Betreuungs- und Pflegeraster, der über 300 Situationen untersucht: Wie oft, wie lange, planbar oder nicht, „peinlich“ oder nicht … Mehr dazu im Handout:

Nachdem Margret die theoretischen Grundlagen vorgestellt hat, gibt’s wieder ein Rollenspiel mit „Radio Matznerviertel“, bei dem Beatrix Eichinger die Rolle der Reporterin übernimmt. Das sind ihre „Interviewgäste“:

  • Agnes, 65 Jahre, single, hat Bluthochdruck, leidet unter Knieschmerzen, hat nach einem Sturz einen verstauchten Arm.
  • Egon, 75 Jahre, verwitwet, keine Ahnung von Haushaltsführung, hat Asthma und braucht zweimal täglich eine Inhalation. Egon ist depressiv verstimmt und nimmt drei verschiedene Medikamente. Hat einen gebrochenen Arm.
  • Maria, 80 Jahre, gesund und fit, verheiratet und in Paarwohnung mit Kurt, 90 Jahre, Herzprobleme, Bluthochdruck, fortgeschrittene Demenz.

Das Rollenspiel mit (v.l.n.r.) den Interviewgästen Agnes, Egon und Maria, der „Radio Matznerviertel“-Reporterin Beatrix und der Pflege-Expertin Margret

Wenn sich das nun nach zu viel Details anfühlt: Diese Beispiele helfen das Pflegemodell und den Pflegeraster zu verstehen, wenn man diverse Fragen durchgeht:

Wie geht es Agnes & Co mit der Atmung? Für Agnes kein Problem, doch bei Egon mit seinem Asthma, einem gebrochenen Arm, der ihn einschränkt, sieht es nicht so gut aus. Nachdem er auch depressiv ist, sollten seine Mitbewohner*innen nicht mit seiner Betreuung belastet werden.

Bei der Nahrungsaufnahme dreht sich das Bild: Agnes kann durch ihren verstauchten Arm gerade nicht ihr Essen schneiden, doch das können gut und gerne ihre Mitbewohner*innen für sie machen. Ist ja auch nur vorübergehend. Kurt beim Essen zuzusehen kann oft für die Mitbewohner*innen sehr unangenehm und unappetitlich sein, daher braucht er eine*n Professionist*in an seiner Seite.

Im Rollenspiel werden zahlreiche weitere Fragen des Pflegerasters durchgegangen und jeweils überprüft, was davon die Mitbewohner*innen übernehmen können und wofür eine diplomierte Pflegeperson oder ein*e Fachsozialbetreuer*in erforderlich ist. Ein letztes Beispiel:

Wie sieht es mit der Medikamenteneinnahme aus? Agnes kann die ihren mit dem verstauchten Arm nicht aus dem Dispenser nehmen. Egon kennt sich nicht aus, was er wann nehmen muss. Ein*e Fachsozialbetreuer*in kann ihm die Medikamente verabreichen, doch das Herrichten muss durch eine diplomierte Pflegeperson erfolgen.

Unterm Strich sieht die Situation in unserem WOAL-Haus so aus:

Das Organisationskonzept

Im nächsten Schritt leitet Ursula Wagner zum Organisationskonzept über und erklärt, was es können soll und welchen Anforderungen es standhalten können muss:

Ursula Wagner präsentiert das Organisationskonzept

Drei Themenbereiche des WOAL-Konzepts antworten auf diese Anforderungen:

  • soziokratische Organisationsprinzipien
  • „alltagsnahe Selbstverwaltung“
  • Eckdaten von Raumkonzept, Besiedelung und Nutzungsstruktur

Das soziokratische Organisationsprinzip

Dabei geht es um eine strukturierte Herangehensweise an Entscheidungen, Mitbestimmung, Organisationsstruktur und die Wahl von Entscheidungsträger*innen oder Vertreter*innen. Entscheidungen, die über herkömmliche Mehrheitsfindung getroffen werden, haben ihre Grenzen: Oft stimmt man für das gefühlte geringste Übel und steht nicht hinter der eigenen Wahl. Denn es wird nicht abgefragt, wogegen man Einwände hat. Diese bekommen im soziokratischen Modell eine klärende Rolle. Die Kreise sorgen für eine nicht-hierarchische, vernetzte Organisation, in der Redekultur und Teilnahme gefördert werden. Wahlen finden auf Basis eines Vorschlagswesens mit Begründung statt. Dadurch kommen auch Menschen zum Zug, die sich nicht „vordrängen“ würden, aber das Vertrauen von anderen haben.

 

Anforderungen an das Organisationkonzept, die soziokratischen Grundprinzipien und Ideen zur „alltagsnahen“ Selbstverwaltung

Alltagsnahe Selbstverwaltung

In der Theorie klingt das ja alles gut – Selbstbestimmtheit, Selbstverwaltung, Solidarität etc. Doch wie kann das in der Praxis funktionieren mit älteren Menschen, die vielleicht nicht gewöhnt sind, sich Gehör zu verschaffen oder ihre Bedürfnisse auszudrücken? Mit Menschen, die schwerhörig sind oder eigenbrötlerisch oder stur? Für diese Fragen hilft uns das Handout von Ursula Wagner weiter:

Voraussetzungen für das Gelingen sind u.a.:

  • Die beschriebenen Strukturen müssen geübt und „bewirtschaftet“ werden.
  • Bewohner*innen und Professionist*innen müssen gleichwertig und gleichwürdig sein.
  • Das Ausverhandeln der gemeinsamen Ziele kann nicht per Dekret verordnet werden, es muss laufend gemeinsam entwickelt und weiter entwickelt werden.

Raumkonzept, Besiedelung und Nutzungsstruktur

Es geht um immer Konkreteres: Ist es egal, ob ein WOAL-Haus von fünf oder 500 Menschen bewohnt wird? Gibt es bei den Wohnungen die Einheitsgröße und Passform für alle? Auch auf diese Fragen gibt es Antworten im WOAL-Konzept:

Das Finanzierungskonzept

Eugen stellt das Finanzierungskonzept vor

Und last,  but not least stellt sich natürlich auch die Frage: Was kostet der Traum vom selbstbestimmten Leben in solidarischer Gemeinschaft, in einem attraktiven Haus mit vielen Wahlmöglichkeiten? Eugen präsentiert dazu zunächst die Überlegungen, die hinter den Berechnungen von WOAL stehen:

 

Zu ergänzen ist noch:

  • Solidarität bedeutet auch: Jede Person zahlt gleich viel. Das ist z.B. unabhängig davon, ob eine Person Betreuung braucht bzw. nützt oder nicht. Umgekehrt bedeutet das auch, dass diverse Leistungen nicht extra bezahlt werden müssen, wie das in normalen „Heimen“ üblich ist.
  • Solidarität kann auch bedeuten, dass die, die mehr Geld haben, mehr bezahlen, sodass sich auch weniger Betuchte die Teilnahme leisten können. Diese Überlegungen sind jedoch nicht in die Berechnungen eingeflossen.
  • Eine Entscheidung für ein WOAL-Projekt erfordert eine verbindliche Zusage, sich auf das gemeinsame Abenteuer einzulassen, ohne dass die Kosten bekannt sind.

Und nun lassen wir Zahlen sprechen:

Fragerunde

In der anschließenden Fragerunde interessieren sich die Teilnehmenden u.a. für folgende Fragen:

Wie groß sind die Basismodule der Wohneinheiten? -> 22 qm Wohnfläche, 3,75 qm Sanitäreinheit und eine anteilsmäßige Gemeinschaftsfläche von 17,5 qm

Wenn eine Person Pflegegeld bezieht, was geschieht damit? -> Das Pflegegeld fließt in den gemeinsamen Topf und dient der Finanzierung der Pflegekosten

Kann ich auf Urlaub fahren und jemand anderen in meiner WOAL-Wohnung wohnen lassen, sodass diese Person die Kosten übernimmt? -> Das braucht eine gemeinsame Entscheidung der Bewohner*innen und muss von Fall zu Fall entschieden werden.

Warum hat WOAL kein Mehrgenerationen-Modell gewählt? -> Die hohen Anforderungen, die der Wunsch nach Solidarität stellt, sind schwer mit der Konzentration auf Familie und Beruf in jüngeren Jahren zu vereinen. Es wäre Solidaritätspotenzial für weitere Anforderungen wie z.B. Kinderbetreuung etc. erforderlich, das dann bei der Betreuung und Pflege fehlt.

Weiterführende Veranstaltungen

WOAL

Für alle, die Interesse an einem tieferen Einstieg zur Planung und Umsetzung eines WOAL-Projektes haben:

16. April 2019, Herklotzgasse. Alle, die sich in der aufliegenden Adressliste eingetragen haben, bekommen die genaueren Infos zugeschickt. Nähere Infos.

Lebenswertes Matznerviertel

„Gemeinsam versorgt – Für einander da sein bis ins hohe Alter. Ein neues Zeitvorsorgemodell im Matznerviertel“ für alle, die mehr Gemeinschaft suchen, aber nicht an ein WOAL-Projekt denken. In Kooperation mit Zeitpolster.

  • Do, 9. Mai 2019: Teil 1
  • Mi, 5. Juni 2019: Teil 2
  • jeweils 18:30 – 20:30 Uhr im Seminarraum der Sargfabrik. Nähere Infos.

Mit der Frage, welche Elemente des WOAL-Konzeptes sich auf Gräzl-Ebene umsetzen lassen, befasst sich eine neu zu gründende Arbeitsgruppe, die von Ute Fragner organisiert wird. Wer Interesse an der Mitarbeit und sich nicht bereits vor Ort in die Teilnehmer*innenliste eingetragen hat, schickt bitte einfach ein Mail an ute.fragner@gmail.at