Auch im Matznerviertel nimmt das öffentliche Umfeld, in dem wir uns im Alltag bewegen, mehr Rücksicht auf die Bauordnung als auf die Anforderungen des menschlichen Körpers. Beim Themen-Abend über Bewegungsanreize für Erwachsene im öffentlichen Raum gab die Physiotherapeutin Christa Leidinger spannende Einblicke und regte zu Diskussionen über Lösungsansätze an.

Bewegung im Rückblick

Auch wenn wir uns gerne als Geschöpfe des 21. Jahrhunderts wähnen: “Körperlich gesehen sind wir sind steinzeitliche Nomaden”, erklärt und Christa Leidinger beim Themen-Abend. Christa ist Physiotherapeutin im Matznerviertel und weiß aus ihrer Praxis, wie es um das physische Befinden ihrer Klientel bestellt ist. Beim Gespräch über Bewegungsanreize im öffentlichen Raum erklärt sie, warum das so ist:

Unsere Vorfahren legten pro Tag zu Fuß Strecken von durchschnittlich 30-50 km zurück. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen Männer im Durchschnitt immer noch 15 km, Frauen 9 km. Aus heutiger Sicht unvorstellbar: Mittlerweile sind wir bei 600 m pro Tag gelandet.

Bequemlichkeit als Norm

Doch nicht nur die Länge der Wegstrecken hat sich verändert, sondern vor allem die Umweltbedingungen, denen wir ausgesetzt sind. Früher waren Menschen von Wildnis umgeben: unebene Böden mit Wurzeln, Steinen, Furchen und Gräben, dazwischen Bäume und Höhlen. Das erforderte eine ganz andere Art der Fortbewegung als die heutigen Gegebenheiten: Mittlerweile wird unsere Fortbewegung mehr durch die Bauordnung geprägt als durch die Natur. Wir gehen auf harten, ebenen Flächen. Diese sind “bequem” für uns, da wir und nicht aufs Gehen konzentrieren müssen, nicht Gefahr laufen zu stolpern. Doch leider entspricht diese Bequemlichkeit aber nicht den Voraussetzungen unseres Körpers. Denn der will nicht dauernd Gleiches: Beim Treppensteigen ist jede Stufe gleich hoch, oft gibt es Abschrägungen, sodass wir nicht mal mehr einen Schritt höher machen müssen. Unsere Gehsteige sind glatt und eben.

Sitzbank im Matznerpark

Körperliche Folgen

Doch warum sollte das unseren Körper stören oder ihm gar schaden? Christa Leidinger erklärt, dass die Aktivierung ganzer Muskelketten davon abhängt, wie wir auf dem Boden auftreten. Unser Fersenbein sollte immer senkrecht stehen, doch der Vorfuß kann und soll sich ans Gelände anpassen. Wenn er das nicht tun muss, weil alles genormt, geglättet und gleichförmig ist, werden immer nur die mittleren Muskelketten aktiviert, die seitlichen jedoch nicht. Das bedeutet, dass z.B. die Kniestrecker innen und außen nicht mehr ausreichend gefordert sind und dadurch schwächer werden. Unser Gleichgewichtssinn, der beim Ausbalancieren auf unebenem Gelände laufend gefragt ist, wird durch ebene und einförmige Böden nicht trainiert und verschlechtert sich. Liegt die gesamte Belastung in der Körpermitte, so bekommt die Kniescheibe ständig etwas davon ab, was wiederum zur Abnützung des Knorpels führt.

Anspruchsvolle Bewegung

Kurzum: Der heutige Anspruch lautet, dass alles sicher, TÜV-geprüft, barrierefrei und bequem sein muss.

Ein “menschengerechter” Anspruch, der die Gegebenheiten unseres Körpers berücksichtigt, würde jedoch anders aussehen: Sinnvolle Bewegung bedeutet v.a. Gehen ins ausreichender Menge (also die Länge der Wegstrecken) und Vielfalt (damit ist die Qualität der Bewegung gemeint, die sich aus der Beschaffenheit des Geländes ergibt).

Nun mag das Argument kommen, dass es ja schließlich einerseits da draußen noch die Natur gibt und hier in der Stadt die Fitness-Studios. Also Schluss mit den Ausreden. Die Erfahrungen in der Praxis – damit ist auch die physiotherapeutische Praxis von Christa Leidinger gemeint – zeigt, dass das nicht ausreicht. Körpergerechte Bewegungsanreize müssen in unserer unmittelbaren Nähe verfügbar sein – am Weg zur Arbeit, im Park nebenan, im öffentlichen Raum. Sonst schaffen wir die erforderliche Menge an Bewegung nicht. Am Wochenende für zwei Stunden in den Wald zu fahren, reicht nicht aus.

Raum für alle

Nun stellt sich die Frage, wie weit unser Außenraum diese Bewegungsanreize zur Verfügung stellt. Und wie wir Menschen darauf reagieren. Dass es mit unebenen Flächen nicht weit her ist, haben wir schon geklärt. Doch hie und da gibt es noch das gute alte Kopfsteinpflaster, z.B. ein Stück in der Goldschlagstraße. Körpertechnisch gesehen ist es super, doch anderen Bedürfnissen läuft es entgegen. Im Ausbalancieren und in der Anpassung im Vorderfuß nicht mehr geübt, stolpern wir auf dieser Gehsteiggestaltung leichter. Ältere Menschen fühlen sich unsicher, für alles, was rollt, ist Katzenkopf besonders unbeliebt.

Kopfsteinpflaster bietet Bewegungsanreize

Außerdem ergibt sich ein schwieriges Spannungsfeld mit dem Thema Barrierefreiheit. Nun sind wir endlich soweit, dass wir bei der Stadtplanung Menschen mit Beeinträchtigungen mitdenken und unsere Gebäude und Einrichtungen dementsprechend rollstuhlgerecht und überhaupt barrierefrei gestalten. Und das ist gut so. Es hat allerdings eine Schattenseite für Menschen ohne Beeinträchtigungen: Es bringt sie um jene ausgleichenden Möglichkeiten, die unser Körper dringend brauchen würde.

Im Idealfall sollte es beides neben einander geben: barrierefreie Flächen und Flächen mit “Wildnischarakter”. Das wird in der Praxis jedoch daran scheitern, dass der öffentliche Raum, der nicht dem Auto gewidmet ist, ohnehin sehr klein ist und ständig zurück erobert werden muss. Eine Aufteilung der Nutzung aufgrund dieser unterschiedlichen Bedürfnisse würde die jeweiligen Flächen also nochmals verringern.

Normen in den Köpfen

Zu sagen, dass es keine Angebote für vielfältigere Bewegung gibt, wäre falsch. Einige Parks in der Stadt bieten auch für Erwachsene Geräte und Erlebnisstationen an. Doch da tut sich ein weiteres Problemfeld auf: Erwachsene wollen nicht gerne etwas tun, bei dem sie sich blamieren könnten. Auf die Slackline zu steigen, um sofort wieder runterzufallen? Lieber nicht, was denken sich denn die Leute dann von mir? Spielerisch etwas ausprobieren, auf Einfassungen balancieren? Das ist doch was für Kinder, sowas tun Erwachsene nicht!

Wie kann man Erwachsene also motivieren, sich auf körpergerechtere Bewegung einzulassen? Über die Aktion “Bewegt im Park” bieten diverse Sportvereine kostenlose Bewegungskurse an und setzen dabei auf ein bewährtes Rezept: Die Kurse werden angeleitet, es gibt jemanden, der die Übungen vormacht und zeigt, wie es richtig geht. Niemand wird gezwungen, etwas zu tun. Man darf auch nur zuschauen. Irgendwann traut sich dann doch jemand und wirkt als mutiges Vorbild. Und dann kann man gemeinsam ausprobieren und fühlt sich nicht mehr so exponiert.

Ansätze gibt es schon

Leider gibt es im 14. Bezirk bislang keine Angebote von “Bewegt im Park”. Bei uns im Grätzl, speziell im Matznerpark, sieht es auch mit Bewegungsgeräten schlecht aus. Andere Parks, wie z.B. Klimt-Park, Reithofferpark und Waidhausen-Park haben mehr zu bieten. Da gibt es z.B. Kraftmaschinen, Crosstrainer und Geräte zum Üben der Bewegungskoordination.

Noch besser geht es in den beiden Motorikparks in Wien zu: In der Donaustadt regen Wackelsteine, Stehseilschaukeln und Trampolinwege die Vorfüße kräftig an. In 24 Stationen kann man klettern, Slalom laufen, auf Wänden gehen und vieles mehr. Einen sehr hohen Anspruch hat auch der Helmut-Zilk-Park im neuen Sonnwendviertel: Zehn Stationen laden zum Wackeln, Balancierklettern und Schwingen ein. “Die Kinder, die dort regelmäßig hingehen, bewegen sich unglaublich gut”, weiß Christa Leidinger über die Wirksamkeit solcher Geräte zu erzählen.

Was tun im Matznerviertel?

Zum Vereinsmotto des Lebenswerten Matznerviertels gehört es ja, selbst zu gestalten und sich was einfallen zu lassen. Also wurde auch bei diesem Themen-Abend eifrig diskutiert und nach Lösungsansätzen gesucht. Das Thema stieß auf viel Interesse und hat angeregt, dass wir uns zunächst alle selbst an der Nase packen und versuchen möchten, uns mehr zu trauen und die Parks für Bewegungsanreize zu erobern.

Es bestand Einigkeit, dass es im Matznerpark ausreichend unbefestigte Flächen gibt, auf und mit denen man etwas tun könnte, wie z.B.:

  • der wilde Einstieg von der Goldschlagstraße her
  • bei den Stiegen Ecke Ameisgasse
  • links des Friedhofs, bei der Friedhofsmauer
  • die Strecke entlang der Matznergasse zum Matznergarten hin

An Ideen, was dort geschehen könnte, fehlte es ebenfalls nicht:

  • Laufrunden organisieren
  • Gymnastik- und Bewegungsstunden abhalten
  • auf der Einfassung im Matznerpark balancieren
  • einen Sockenmarsch im Matznerpark organisieren
  • eine gemeinsame Exkursion in einen Motorikpark machen
  • Veranstaltungen, die vom Lebenswerten Matznerviertel organisiert werden oder an denen der Verein teilnimmt, nützen, um Bewegungsangebote zu machen
  • nach dem Vorbild des “Ministry of Silly Walks” gemeinsam mutig unübliche Bewegungsformen ausprobieren

Abschließend hat Christa Leidinger noch dazu aufgerufen, dass wir überall dort, wo wir uns bewegen, diese kleinen Möglichkeiten aufspüren: kleine Unebenheiten ausnützen, unbequemeres Gelände entdecken und neue Möglichkeiten der Bewegung auszuprobieren.